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Leseprobe - Die Kunst des Nähens

Leseprobe aus meinem Buch "Auf Herz und Gewissen"

Die Kunst des Nähens

"Ich habe übrigens einen Nähkurs bei der VHS belegt", berichtet meine Freundin Astrid und lehnt sich erwartungsvoll in ihrem Ohrensessel zurück. Mir bleibt der Kaffee im Hals stecken. Ein Nähkurs. Ich huste mich frei und schaue bewundernd zu ihr hinüber. Was diese Frau alles macht. Erst der Pannenhilfekurs, dann Ikebana und nun Schneidern. Sofort muss ich an den Handarbeitsunterricht in der Schule denken, an umsäumte Spitzendeckchen, Hohlstich und die ersten selbst angenähten Knöpfe.

Mein Blick ist noch immer voller Bewunderung und nach dem Durchblättern der Schnittmusteranleitungen, die rein zufällig auf Astrids Wohnzimmertisch liegen, gesellt sich ernsthaftes Interesse dazu. Das möchte ich auch können.
Schneidern. Ein Unikat besitzen. Beim nächsten Geschäftsessen mit meinem Chef und seiner Gattin beiläufig erwähnen, dass es das soeben bewunderte Kleid nirgends zu kaufen gibt. "Ach, das habe ich selber genäht", höre ich mich bescheiden sagen. "Ich mag es nicht, wenn man dem gleichen Kleid, das man gerade trägt, im nächsten Restaurant begegnet." Stumm und neidvoll wird sie nicken, die Gattin meines Chefs, die noch nicht einmal kochen kann. Und ich werde ihr aufmunternd den Arm tätscheln und versichern, dass Nähen völlig unkompliziert sei. Dass jede Frau so etwas lernen kann. Wirklich jede.
"Komm doch einfach mit, es sind noch Plätze frei", meint Astrid fröhlich. Ich strahle und sofort zaubert sie ein Anmeldeformular hervor.

Unsere Nählehrerin stellt sich als Frau Schmidt, gebürtig aus Wanne-Eickel vor. Ich schätze sie auf Mitte sechzig und ihren wallenden Blumenmusterrock auf mindestens doppelt so alt. Ihre hochroten Wangen leuchten, und sie begrüßt uns herzlich in diesem, ihrem bereits fünften Nähkurs.
Meinen entgeisterten Blick auf ihren geblümten Glockenrock kommentiert sie, stolz die Hüften schwingend, mit den Worten: "Ja, meine Damen, auch Sie werden nach drei Monaten in der Lage sein, sich Ihre modische Garderobe selbst zu schneidern."
Astrid kichert und ich schaue irritiert in die Runde. Zehn weitere Damen blicken erwartungsvoll drein und die Vorstellung, in drei Monaten auf insgesamt zwölf wadenlange unerotische Blumenrockwallungen zu starren, lässt mich vorübergehend meinen Entschluss bereuen.

Jede darf hinter einer der hochtechnisierten Nähmaschinen Platz nehmen und sich zunächst mit Garn-Einfädeln und diversen Spulen vertraut machen. Für meinen ersten blutigen Kontakt mit der Nadel, die unerwartet in meinen Daumen fährt, hält Frau Schmidt geistesgegenwärtig ein Pflaster bereit. Sie doziert streng und mit hoch erhobenem Zeigefinger, dass vorläufig lediglich der Faden eingeführt werden solle. Das Bedienen des elektrischen Fußpedals erfolge erst in einem der nächsten Schritte. Kleinlaut beklebe ich meine tiefe Wunde und nehme mir vor, ab sofort artig alle Anweisungen zu beherzigen.

Bereits nach dreißig Minuten Einfädelübungen stürzen wir uns auf die von ihr mitgebrachten Stoffreste, um diese im Patchworkverfahren aneinanderzunähen. Außer Frau Müller. Sie ist Wiederholungstäterin und darf bereits an einem Sommerkleidchen für das neugeborene Enkelkind basteln. Ich schiele zu ihr hinüber und beobachte ehrfürchtig, wie sie mit flinken Fingern grasgrünes Garn einfädelt und einen ebenso sattgrünen Stoff behände glatt streicht. Armes Enkelkind. Eine andere Farbe hätte es auch getan. Nun, vielleicht ist der Vater Jäger oder Vorsitzender des hiesigen Schützenvereins. Waidmannsheil.

Astrids Ellenbogen landet zwischen meinen Rippen und reißt mich aus meinen Gedanken. Ein strenger Blick von Frau Schmidt befiehlt mir, mich meiner ersten Näharbeit zu widmen.
Das Zusammenstecken mit Stecknadeln halte ich für überflüssig. Lässig klappe ich zwei der bunten Stofffetzen aufeinander und schiebe sie in die Nähmaschine. Augenblicklich betätige ich das Fußpedal und gebe Gas. Das frühe Rattern meiner Maschine lässt Frau Schmidt aufhorchen und ich kassiere umgehend den zweiten Rüffel. Sie reißt meine Näharbeit heraus und schwingt sie wie eine Trophäe über meinem Kopf. Meine Mitschülerinnen unterbrechen kurzzeitig ihre Steckereien und aalen sich in meinen Maulschellen.
"So nicht", belehrt mich Frau Schmidt freundlich aber bestimmt, "so nicht!"
Gönnerhaft beugt sie sich zu mir herab und ich erhalte noch einmal eine extra Einführung in das Zusammenstecken von Stoffen.

Unsere Nähmaschinen rattern um ihr Leben und eine Schülerin nach der anderen hält stolz und mit freudig erröteten Wangen die zusammengetackerten Stoffstücke in die Luft. Frau Schmidt nickt wohlwollend in die Runde.
Unsere erste Näharbeit. Andächtig halten wir sie in den Händen. Wir dürfen sie mit nach Hause nehmen.
Zur nächsten Stunde sollen, wenn möglich, Brokatstoffe erworben werden, die dann im Laufe des Unterrichts zu Sofakissen verarbeitet werden. Aber halt! Das passende Nähgarn bitte nicht vergessen. "Die Schnittmuster werden von der Volkshochschule gestellt und der Strom für die elektrischen Nähmaschinen ebenfalls", bemüht sich Frau Schmidt kichernd um ein möglichst aufgelockertes Ende unserer ersten Nähstunde.

Ich wische mir mit meinem, trotz vorherigen Arretierens schräg zusammengenähten Lappen, den Schweiß von der Stirn. Während ich noch überlege, ob ich vielleicht besser zum Italienischkurs wechseln sollte, meldet sich Frau Müller zu Wort. Ihr Schwager könne preisgünstig, über seinen Vetter zweiten Grades, aus dessen Großhandel hochwertige Brokatstoffe erwerben. Allerdings in einer astronomischen Menge. Noch bevor ich die verzwickten Verwandtschaftsverhältnisse sortiert habe, bricht frenetischer Jubel aus und man macht dieses lukrative Geschäft dingfest. Fünfzehn Ballen à zwanzig Meter Stoff. Breite: ein Meter dreißig. Bis wir den vernäht haben, werden Jahre ins Land ziehen. Und wenn der Stoff grün sein sollte, werde ich mich für den Rest des Kurses krank melden. Oder tatsächlich zur Italienisch-Truppe übersiedeln. Sicherlich würde die Gattin meines Chefs ebenfalls vor Ehrfurcht erstarren, sollte ich beim Italiener in perfekter Landessprache mein Menü bestellen.

Die zweite Nähstunde steht an und natürlich ist der Stoff ausschließlich grün und schillert wie vermooster Waldboden. Leise gemurmelte Enttäuschung macht sich breit. Aber angesichts des Nettopreises, der allerdings für mein Empfinden immer noch recht hoch ist, erhellen sich die Mienen meiner Nähkolleginnen alsbald. Ich werfe Astrid einen verzweifelten Blick zu und sie tröstet mich schulterzuckend mit der Option, die selbst erstellten Brokatkissen an Tanten, Mütter und Schwiegermütter zu verschenken. Ich nicke stumm und ergeben. Immerhin haben wir so, dank Frau Müller, die Weihnachtsgeschenke für die nächsten fünfzehn Jahre gesichert. Und für Muttertage und alle noch zu erwartenden Geburtstage.

Frau Schmidt erklärt uns ausgiebig die Zuschneidetechnik und ich darf das erste Muster schneiden. Zwölf Augenpaare beobachten gespannt, wie ich umständlich den Stoff von der Rolle wickele und das Schnittmuster mittig drauflege. Ein strenges "Halt, so nicht!" lässt mich zusammenzucken. Was ist jetzt schon wieder?
Frau Schmidt erklärt, dass man möglichst wenig Stoff verschwenden solle. Natürlich. Mit den Worten, "so spart die kluge Hausfrau", zieht sie die Vorlage bis dicht an den Rand und wir lernen, aus zwanzig Quadratmetern Stoff mehrere hundert Sofakissen herauszuschneidern. Mal vorausgesetzt, dass wir so viele haben möchten.

Jede von uns darf mehrere Rohlinge zurechtschnibbeln und mit hochroten Köpfen nebst stapelweise grünem Brokat auf den Armen begeben wir uns zu unseren Plätzen. Die Nähmaschinen geben alles. Der Boden pflastert sich nach und nach mit Kissenhüllen. Und wir haben noch nicht einmal den ersten Ballen vernäht.

Tapfer drehen Astrid und ich unsere ersten Werke auf rechts, als die Türe aufspringt. Besagter Vetter betritt die heiligen Nähhallen und verkündet fröhlich, dass er auf Geheiß von Frau Müller im Begriff ist, mehrere Kubikkilometer Füllmaterial anzuliefern.
"Überraschung", kräht Frau Müller und Frau Schmidt nickt ihr anerkennend zu. Frau Müller sonnt sich im zugenickten Lob und tut kund, dass mehrere LKW-Ladungen Füllwatte ebenfalls zum Supersondernettopreis erhältlich seien. Die Gruppe jubiliert. Eine ältliche Mitnäherin meldet sich zaghaft zu Wort. Eigentlich benötige sie noch verschiedene Kissen in Altrosa und Veilchenblau. Auch Mausgrau sei eine höchst begehrte Kissenfarbe. Der Vetter strahlt sogleich und wirft geschäftstüchtig einen Hinweis auf die Mindestabnahmemenge in die Runde. Meine Nähkolleginnen applaudieren zustimmend und das Geschäft wird per Handschlag besiegelt. Womit wir den Großhandel wohl endgültig saniert hätten.
Mein kleines Schwarzes rückt in unerreichbare Ferne. Aus der Traum vom Unikat.
Ich gebe mich geschlagen. Gegen diesen Brokatwahn komme ich nicht an.

Nun bleibt mir lediglich die Option, bei der nächsten privaten Einladung meines Chefs, ein waldmoosgrünes Brokatkissen anzuschleppen. Er wird vermutlich nach Luft ringen und auf seine hochmoderne weiße Ledercouch starren. Beiläufig könnte ich erwähnen, dass ich in der Lage sei, exclusiv für ihn und die Frau Gemahlin, eine umfangreiche Kollektion altrosa und veilchenblauer Kissen herzustellen, und er wird daraufhin vermutlich einer Ohnmacht nahe sein. Alternativ werde ich vorschlagen, zum Fach Italienisch zu wechseln, allerdings aus Kostengründen, nur bei der Zusage einer Gehaltserhöhung. In diesem Falle würde ich selbstverständlich die Näherei an den Nagel hängen.

Tschaka. Das ist es. Ich gratuliere mir zu dieser genialen Idee und verabschiede mich mit einem lässigen "Arrivederci" von dem illustren Nähkränzchen.



©2010, Gisela Reuter


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